
© Anton Tal
Ein musikalisches Universum
Alexey Kochetkov
„Es gibt zu viele gute Ideen“, sagt Alexey Kochetkov mit einem Schmunzeln. Der Violinist und Komponist experimentiert im Rahmen seines Soloprojektes '5 String Theory' mit Violine und Elektronik und schafft so neuartige Dimensionen, welche die jahrhundertealte Violintradition mit zeitgenössischer Klangästhetik verbinden.
Dein Künstlername 5 String Theory klingt nach einer Mischung aus Kunst und Wissenschaft – was ist die Idee dahinter?
Unser Gehirn sucht ständig nach Mustern. Wenn vertraute Muster auf unerwartete Weise verbunden und neu interpretiert werden, gibt uns das ein Gefühl der Zufriedenheit. Ich spiele Geige, und seit etwa sechs Jahren auf einer fünfsaitigen Geige. Meine alte Geige ging damals bei einem Konzert kaputt, und als ich eine neue suchte, probierte ich die fünfsaitige aus – seitdem gibt es kein Zurück. Sie hat mich inspiriert und künstlerisch herausgefordert. Gleichzeitig begann ich, mit Geige und Elektronik zu experimentieren und suchte einen Namen, der meine Begeisterung für Wissenschaft mit meiner besonderen Geige verbindet.
Die Wissenschaft schließt für mich das Weltbild ab
Woher kommt diese Begeisterung?
Als ich klein war, hat mir mein Großvater diese Liebe und Passion für die Wissenschaft vermittelt. Er hat mir vom Universum erzählt, und wir hatten ein großes Buch mit Planeten und Galaxien. Das hat in mir einen Samen gesetzt: Wissenschaft ist so cool, so interessant, so weitgehend, so umfangreich! Dort finde ich Antworten auf meine Fragen, sie schließt für mich das Weltbild ab.
Und wie bringst du diese Wissenschaft auf die Bühne?
Im Jahr 2023 hatte ich die Gelegenheit, meine beiden Leidenschaften für Musik und Wissenschaft in einer Performance zu vereinen. „The Theory of Everything“ (Die Theorie des Alls) war eine multidisziplinäre Performance mit Lesungen, Tanz, Zirkuskunst, visueller Kunst und meiner Musik. Sie behandelte wissenschaftliche Konzepte wie die Relativitätstheorie, Quantenphysik und Stringtheorie und stellte diese aus einer individuellen künstlerischen Perspektive dar. Man sagt zum Beispiel, das Universum könnte das Leben erzeugt haben, um selbstbewusst zu werden. Durch reine Musiktöne – eine sehr abstrakte Form von Kunst – kann man diese Idee nicht unbedingt äußern, doch durch Text, Tanz und Musik zusammen bekommen die Zuschauer ein mehrdimensionales Bild von diesem Konzept.

© Anton Tal
Unsere unbeantworteten Fragen öffnen eine Tür für die Vorstellungskraft
Was fasziniert dich an dieser komplexen Theorie der Elementarteilchen, die man nur über zusätzliche Dimensionen beweisen kann?
Was mich daran hauptsächlich fasziniert, ist, dass man sich so etwas überhaupt ausdenken kann. Zum Beispiel ist die Stringtheorie an sich eine sehr künstlerische Idee. Sie erinnert mich an epische Mythen aus dem alten Griechenland oder Ägypten. Damals wollte der denkende Mensch dieselben Fragen wie heute beantworten: Wie ist die Welt entstanden? Was bewegt die Prozesse, die wir beobachten? Man nutzte seine Vorstellungskraft und erschuf Götter und Teufel, Hölle und Paradies und vieles mehr. Diese Erzählungen verfügten über eine bestimmte innere Struktur und Logik.
Heute wissen wir dank der Wissenschaft schon einiges über die Welt, doch es gibt immer noch Lücken, die geschlossen werden müssen. Welches sind die grundlegenden Elementarteilchen, was ist Dunkle Materie, Dunkle Energie? Hat das Universum einen Anfang und ein Ende? Gibt es mehrere Dimensionen? Unsere Geschichten sind dabei viel komplizierter geworden. Anstatt dramatischer Erzählungen über göttliche Intrigen nutzen wir komplexe Formeln, die berechnen, dass das Universum 10, 11 oder 26 Dimensionen haben könnte, oder dass es zu 90 Prozent aus Dunkler Materie besteht, die aber nicht beobachtet werden kann.
Ich bin sicher nicht die richtige Person, um zu beurteilen, ob die Wissenschaftler, die daran arbeiten, richtig oder falsch liegen. Was mich aber daran fasziniert, ist der Prozess, der Versuch an sich – und dass solche unbeantworteten Fragen eine Tür für die Vorstellungskraft öffnen.

© Daniel Paikov
John Cages „Etudes Australes“ lag eine Sternenkarte zugrunde
Einmal angenommen, jemand gäbe dir ein Bild von einem Sternenhimmel – wie wäre deine Herangehensweise an eine Komposition darüber?
Tatsächlich hat dies John Cage in seinen „Etudes Australes“ schon umgesetzt. Dabei hat er eine Sternenkarte auf Notenblätter gelegt, und anhand der Positionen der Sterne wurden die Noten und Rhythmen bestimmt. Ich würde aber in dem Fall gerne meine eigene Methode herausfinden.
Auf welche Weise erweitert die fünfte Saite deines Instrumentes dein musikalisches Universum?
Die fünfte Saite vervollständigt Töne im tiefen Register, die eine viersaitige Violine einfach nicht hat. Bei klassischer Musik ist das nicht entscheidend, aber wenn man eigene Musik komponiert, macht es einen Unterschied. Außerdem macht es einfach Spaß, eine zusätzliche Saite zu haben und damit eine eigene Spielweise zu entwickeln.

Eine fünfsaitige Violine – Geige und Bratsche im selben Instrument © Anton Tal
Dennoch hat sich die viersaitige Violine etabliert.
Bis sich der klassische Kanon der viersaitigen Geige etabliert hatte, gab es viele verschiedene Varianten mit drei oder fünf oder mehr Saiten. Die Meister und Geiger bauten verschiedene Modelle, weil es ja kein „richtiges" gab. Im 16. bis 17. Jahrhundert etablierte sich dann die Geige mit vier Saiten, weil sie am lautesten klang – was in der Zeit vor einer Verstärkung des Tons eine wichtige Rolle spielte. In einem Orchester schließt die Lücke zu den Celli ganz elegant die Bratsche, deren vier Saiten tiefer gestimmt sind: Ihre Töne reichen bis zum tiefen C. Eine fünfsaitige Geige bedeutet also: Geige und Bratsche im selben Instrument.
Technischer Fortschritt bringt uns auch kulturell auf eine neue Umlaufbahn
Du kommst aus der klassischen Musik. Wie findet man da den Schritt in die elektronische Musik?
Ich sehe Elektronik als Erweiterung meines Instruments. Es ist ein logischer nächster Schritt. Was körperlich mit zwei Händen und zehn Fingern möglich ist, haben Geiger wie zum Beispiel Paganini – um den bekanntesten zu nennen – bereits erreicht. Viel weiter darüber hinauszugehen ist einfach nicht möglich. Die besten Läufer:innen können die aktuellen Rekorde vielleicht noch um Millisekunden verbessern, doch dramatische Fortschritte würden über die menschliche Physik hinausgehen und sind daher nicht möglich. Ähnlich ist die Lage bei der Geige. Elektronik hingegen öffnet eine Tür zu einer komplett neuen Welt. Sie eröffnet eine neue Dimension. Außerdem ist es ein logischer evolutionärer Schritt wie zum Beispiel die Entwicklung der E-Gitarre, welche die Musik durch Rock’n’Roll in eine komplett neue Richtung gebracht hat. Ein jeder solcher technischen Fortschritte bringt uns auch kulturell auf eine nächste Ebene, eine absolut neue Umlaufbahn.

© Anton Tal
Wir sind Teil der Natur und prägen sie
Aus etwas Vorhandenem schöpfen und durch Verknüpfung etwas neues schaffen – simpel und genial zugleich.
So funktionieren wir Menschen. Wir schauen immer nach vorne. Einst suchten wir nach dem, was hinter dem Meer verborgen liegt, nun streben wir danach zu wissen, was jenseits des Himmels wartet. Wir wollen die kleinsten Bausteine des Universums finden, das virtuoseste Violinkonzert spielen, die größten Geheimnisse des Weltalls entdecken und eigene Welten erdenken. So funktioniert die Natur, die uns Menschen ausmacht. Wir sind Teil der Natur, aber prägen sie auch gleichzeitig. Ist dies nicht das Prinzip eines multidimensionalen Universums, in dem sich Dimensionen miteinander verflechten und sich selbst erschaffen?
Bist du darin – indem du erforschst, was möglich ist mit deinem Instrument und mit Musik allgemein oder wie du ein Publikum anders erreichen kannst – nicht auch selbst ein Wissenschaftler?
Ah, ich hoffe es. Ein Teil von mir möchte jedenfalls sehr gern auch als Forscher anerkannt werden. [Lacht.]
Interview: © STERNENHIMMEL DER MENSCHHEIT / Teresa Grenzmann