Foto: Michael Lionstar

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Der Astronom als Künstler

Alan Lightman ist Physiker, Schriftsteller und Professor der Geisteswissenschaften am MIT in Cambridge, Massachusetts. Im Interview spricht er über literarische Experimente und menschlichen Entdeckergeist, über Schönheit in der Geometrie und Musikalität im Universum

1993 erschien Einstein’s Dreams, Ihr erster Roman. Bis dahin, im Alter von 45 Jahren, hatten Sie Karriere als Astrophysiker gemacht. Woher kam der Gedanke, ein anderes Publikum ansprechen zu wollen, Belletristik zu schreiben?

Es kam nicht aus dem Nichts. Ich hatte bereits seit 1981/82 Essays veröffentlicht, die in englischen und amerikanischen Zeitschriften wie dem Smithsonian Magazine und The New Yorker publiziert wurden. Auch einige Essaybände waren erschienen. Der Essay ist eine ungemein flexible literarische Form. Man kann informativ sein, man kann poetisch sein, man kann persönlich sein, man kann philosophisch sein. Ich begann, diese formalen Grenzen auszuweiten, indem ich zunehmend fiktive Elemente in manche meiner Essays einfügte, die daraufhin zu kleinen Kurzgeschichten wurden.

Also ist der Grund, warum ein Astrophysiker Belletristik schreibt, nicht: um den irdischen Boden nicht unter den Füßen zu verlieren, unsere alltägliche Welt?

Ich interessiere mich für Kunst genau wie für Wissenschaft, seit ich klein bin. Als Kind habe ich Gedichte geschrieben; etwa im Alter von 20 Jahren begann ich sie zu veröffentlichen. Der Essay bot mir dann die Möglichkeit einer Brücke zwischen meinem wissenschaftlichen und meinem literarischen Interesse, es war ein Weg, mein ganzes Selbst auszudrücken. – Ich war außerdem ein großer Bewunderer von Autoren des Magischen Realismus, wie Gabriel García Márquez und dem italienischen Schriftsteller Italo Calvino. Calvino war natürlich selbst kein Wissenschaftler, weswegen all die wissenschaftlichen Verweise in seinen Werken sehr fantastisch sind, imaginär.

In Ihren Romanen präsentieren Sie Ihren nicht-wissenschaftlichen Lesern nie den einen einzigen Weg, das Universum zu verstehen. Und immer wieder die Zeit – Einstein’s Dreams enthält viele unterschiedliche Traumsequenzen, die für diverse Möglichkeiten stehen, den Zeit-Begriff zu interpretieren. In The Accidental Universe. The World You Thought You Knew gibt es außerdem das Vorübergehende, das Spirituelle, das Symmetrische und drei weitere Universen, die Sie anhand von “terrestrischen” Erfahrungen beschreiben. Als wäre auch das Schreiben ein wissenschaftliches Experiment für Sie …

Es stimmt, dass ich damit experimentiert habe, Geschichten auf viele verschiedene Arten zu erzählen. Als Künstler ist mir Originalität sehr wichtig. Was mich als Schriftsteller begeistert, ist das Finden neuer Formen, neuer Ideen. Das kann man als unterschiedliche Experimente beschreiben – oder man sagt, es ist der Wunsch nach Originalität.

Menschliche Wesen sind Forscher

Apropos Experimente: In Herr G. – Ein Roman der Schöpfung erschafft der Ich-Erzähler – der Leser identifiziert ihn als Gott – die Welt aus Langeweile und erweist sich nicht wirklich als der souveräne Allmächtige.

Ja. Für dieses Buch wollte ich einen Gott, der nicht alles weiß, der auch Schwächen besitzt. Ich fand, dies sei ein wesentlich interessanterer Gott für einen Roman. Ich wollte das herkömmliche Gottesbild herausfordern, aber auch einfach, dass die Story Spaß macht und ein bisschen Humor enthält.

Einen sehr menschlichen Humor ...

Naja, während mein Lektor im Vorfeld zur Erstveröffentlichung des Buches absolut zufrieden war, sagte die Korrektorin aufgebracht: “Sie finden doch nicht allen Ernstes, dass das hier auf den Planeten Erde zutrifft, auf unser Universum!” Sie fand es respektlos ...

Schreiben Sie noch Gedichte?

Gelegentlich, nur ab und zu. Aber ich versuche Techniken aus der Lyrik in meine Prosa zu übertragen: auf den Klang der Worte zu achten, den Rhythmus der Wörter ...

Sind Sie musikalisch?

Ich spiele Klavier, ja.

Was hat es mit der Verbindung zwischen Naturwissenschaften und Musik auf sich? Ist es nicht erstaunlich, dass es so viele Physiker mit musikalischem Hintergrund gibt?

Zur Zeit der Astronomen Kopernikus und Keppler bestand die Vorstellung der „Sphärenmusik“. Diese Theorie übersetzte den jeweiligen Abstand der neun Planeten zur Sonne in ein Notensystem. Anhand der musikalischen Harmonien konnte man dann deren Positionen verstehen. Die Idee erwies sich als falsch: Die Distanz der Planeten zur Sonne ist Zufall – es besteht keinerlei Ordnung in Harmonien, das Universum schwingt nicht. Aber damals assoziierte man eben noch die Musik mit dem Firmament.

Sie glauben also nicht, dass es Albert Einstein beim Finden seiner Theorie geholfen hat ...

Dass er Geige gespielt hat? Nein, ich glaube nicht, dass es ihm geholfen hat. Was ich aber bestätigen kann, ist, dass viele Naturwissenschaftler auch Musiker sind. Werner Heisenberg, der große deutsche Physiker, spielte auf dem Level eines professionellen Pianisten. Auch Paul Ehrenfest, einer der Begründer der Quantenphysik, war ein Musiker. Der amerikanische Physiker Richard Feynman spielte Schlagzeug … Und auch viele der Wissenschaftler, die ich persönlich kenne, spielen ein Musikinstrument. Es ist bewiesen, dass Musik und Mathematik im selben Teil des Gehirns verarbeitet werden. Aber soweit wir wissen, hat sich weder Einsteins Liebe zur Musik noch seine Erfahrung damit direkt auf seine wissenschaftliche Arbeit ausgewirkt.

Sie selbst besitzen zudem einen philosophischen Hintergrund, richtig?

Das ist richtig. An der Universität habe ich neben Seminaren in Physik und Literatur auch philosophische Kurse besucht. Philosophie hat mich immer sehr interessiert, und die meisten meiner Aufsätze und Bücher besitzen eine philosophische Dimension.

Gibt es denn Parallelen in der philosophischen und der wissenschaftlichen Art zu denken?

Ich glaube, diese Verbindung besteht nicht zu allen Wissenschaften und zu jeder wissenschaftlichen Tätigkeit. Aber in manchen Wissenschaften stellen Menschen große Fragen wie: Wo kommen wir her? Was stand am Anfang des Universums? Was macht uns menschlich? Und solche großen Fragen führen zur Philosophie.

Alle Wissenschaften sind kreative Tätigkeiten

Es scheint, als sei der nächtliche Blick in den Himmel ein wesentlich menschlicher Moment, in dem jeder, sogar der*die Mächtigste, Reichste oder Berühmteste, sich sehr klein fühlen mag. Und innerhalb dieses die Welt verbindenden Gefühls ist jeder gleich – wenigstens unter der unfassbaren Unendlichkeit des Sternenhimmels.

Da gebe ich Ihnen Recht. Nicht jeder stellt diese philosophischen Fragen. Aber ich stimme Ihnen darin zu, dass alle Menschen aller Kulturen, egal ob reich oder arm oder mächtig oder schwach, überwältigt und ehrfürchtig sind. Ich glaube, das ist ein universelles Gefühl.

Wozu brauchen wir die Astrophysik? Was für einen Nutzen hat das Wissen über Jupiter oder um einen Stern, benannt mit einer langen Zahl und einem griechischen Buchstaben, den wir nicht einmal mit bloßem Auge sehen können?

Nun, man kann sagen: Wir haben die gleiche Verwendung dafür wie für Symphonien, für Gemälde, für Ballett ... Es ist Teil unserer Kultur. Es ist Teil unseres Wunsches, uns selbst auszudrücken. Es ist Teil unseres Wunsches, zu wissen, wo in diesem riesigen Universum wir uns befinden. Es gibt viele Dinge, die wir tun und in die wir investieren, die keinen praktischen Nutzen haben. Die meisten unserer Künste haben keinen praktischen Nutzen, also könnte man genauso gut fragen: Warum machen wir Kunst? Die Antwort auf „Warum machen wir Astrophysik?“ ist ganz ähnlich: Es geht um das Erforschen von beidem, unserem inneren Selbst und unserer äußeren Welt. Wir sind Forscher – menschliche Wesen sind Forscher.

Wir können unseren Glauben nicht beweisen

Würden Sie sagen, dass es mehr Berührungspunkte zwischen der Astrophysik und der Kunst gibt als zwischen der Astrophysik und den anderen naturwissenschaftlichen Richtungen?

Vielleicht. Ich glaube, alle Wissenschaften sind kreative Tätigkeiten, das verbindet sie mit der Kunst. Abgesehen davon suchen auch beide, die Wissenschaften und die Künste, nach Wahrheit. In den Künsten ist es die Wahrheit unserer inneren Welt und in den Wissenschaften ist es die Wahrheit der äußeren Welt. Was Kunst und Wissenschaft außerdem gemeinsam haben, sind die Suche und der Ausdruck von Schönheit. Während man die Schönheit in der Kunst ohne Übung sehen kann, benötigt man etwas Übung in Mathematik und wissenschaftlicher Methodik, um die Schönheit in der Wissenschaft zu erkennen. Aber sobald man ein kleines bisschen Übung hat, ist die Schönheit der Wissenschaft ganz offensichtlich. Man betrachte nur einmal ein DNA Molekül, seine spiralförmige Drehung – das ist schön! Optisch ist es schön. Dann die Sprache der Physik, die Mathematik ist: Sobald man diese Sprache versteht, erkennt man, dass eine Menge Schönheit darin liegt – zum Beispiel die Gründe dafür, dass eine Schneeflocke eine sechsseitige Symmetrie besitzt.

Gibt es ein einfaches Beispiel dafür?

Bei jedem Kreis ist das Verhältnis von Umfang zu Durchmesser gleich. Das ist eine schöne geometrische Wahrheit. Die alten Babylonier haben sich der Zahl für dieses Verhältnis vor 3.000 Jahren erstmals angenähert. Mit moderner Mathematik lässt sich eine unendliche Zahl bestimmen: 3,14159 und viele Nachkommastellen. Diese Tatsache also, dass das Verhältnis von Umfang zu Durchmesser Pi ist, eine universelle Zahl für jeden Kreis, den man zeichnet, und dass man mithilfe der Mathematik diese Zahl errechnen kann, obwohl es sich dabei um eine unendliche Zahl handelt – das ist ein Ausdruck für die Schönheit des Geistes! Dass in dieser geometrischen Form diese Universalität liegt!

In seiner Inszenierung von Händels Messias in Salzburg 2020 ließ der amerikanische Theaterregisseur Robert Wilson am Ende einen Astronauten auf der Bühne erscheinen. Die Nachricht schien zu sein, dass der Messias unserer Zeit ausgerechnet derjenige Mensch sei, der fähig ist, unseren Planeten zu verlassen. Ist dies ein Gedanke, den Sie teilen könnten?

Ich würde es nicht genau so sagen. Ich mag die Idee, am Ende des Messias einen Astronauten erscheinen zu lassen. Doch wenn man Händels Messias hört, fühlt man sich emporgehoben, man fühlt sich als Teil von etwas, das größer ist als man selbst. Deswegen denke ich, dass ein Astronaut auf der Bühne auch symbolisch für uns steht, wie wir über uns hinausreichen.

Welche Frage wird Ihnen in Ihren Vorlesungen am häufigsten gestellt?

In den vergangenen zehn Jahren habe ich über Wissenschaft und Religion geschrieben, oder meistens sage ich: Wissenschaft und Spiritualität. Eine Frage, die mir am Ende solcher Vorlesungen oft gestellt wird, ist, ob ich an Gott glaube.

Was antworten Sie?

Ich sage, dass ich nicht weiß, ob Gott existiert oder nicht. Zuallererst muss man bestimmen, was mit „Gott“ gemeint ist, denn die Leute haben unterschiedliche Definitionen. Sagen wir, mit „Gott“ meinen wir ein intelligentes Wesen, welches das Universum mit einer bestimmten Absicht erschaffen hat. Außerdem sprechen die meisten Kulturen davon, dass Gott unendliche Macht besitze, unendliche Weisheit. Nehmen wir also das als Definition für „Gott“, dann denke ich nicht, dass die Wissenschaft jemals in der Lage sein wird, die Existenz Gottes zu beweisen. Und ich denke nicht, dass die Religion jemals in der Lage sein wird, die Existenz Gottes zu widerlegen. Es ist eine Sache des Glaubens: Entweder glauben wir oder wir glauben nicht, aber wir können unseren Glauben nicht beweisen.

Interview: © STERNENHIMMEL DER MENSCHHEIT / Teresa Grenzmann