Wir können nicht nichts sehen.
Menschen sind eigentümliche Wesen. In allem suchen wir einen Sinn.
Beispielsweise gruppieren wir Hunderte von Lichtjahren entfernte Sonnenpunkte zu anthropozentrischen Figuren. Sehen in ihnen Gestalten, indem wir Lichtpunkte zu Silhouetten formen. Machen uns auf diese Weise kurzerhand die Welt zueigen, indem wir sie den Gesetzen unserer Wahrnehmung unterwerfen, sie zu Bildern zusammensetzen – die es so allerdings nur in unseren Köpfen gibt.
Das liegt unter anderem auch daran, dass sich Gehirn und Auge zu derart empfindlichen Detektoren von Umrissen entwickelt haben, dass wir Menschen Linien, Kurven und Winkel geradezu für natürliche Komponenten der Welt halten müssen.
So erschaffen wir die Welt? Unsere Welt. Die Welt in unserem Kopf.
Selbst ein nur von vielen zufällig verstreuten Lichtpunkten durchwirktes Feld, wie es der Nachthimmel darstellt, setzt diese evolutionär entstandenen Wahrnehmungsweisen in Gang: Wir können gar nicht anders, als in ihnen aus Linien, Kurven und Winkeln erschlossene Figuren zu sehen.
Im Grunde also ein natürlicher Vorgang: Um etwas zu sehen, heben wir es vom Hintergrund ab. Und da die Schwärze des Nachthimmels in unseren Breiten dem Auge nicht allzu viel zu bieten hat, werden die Lichtpunkte darin als relevant aufgefasst, weshalb das Gehirn sie zu Strukturen zusammensetzt.
Je regelmässiger dabei die Reizmuster, desto leichter fällt es uns, sie in eine Gestalt zu überführen.
Das erste Gesetz, das dabei greift, ist das der durchgehenden Linie: Punkte, die sich zu einer geraden oder sanft geschwungenen Linie verbinden lassen.
Das zweite Gesetz ist das der Nähe: Linien, die sich nahe beieinander befinden, erscheinen zusammengehörig.
Das dritte Gesetz ist das der guten Gestalt, wonach wir jedes Reizmuster so interpretieren, dass die daraus resultierende Struktur so plausibel wie möglich ausfällt.
Da sich der Nachthimmel zudem gerade noch merklich dreht, greift außerdem das Gesetz des gemeinsamen Schicksals, demzufolge Sterne, die sich in der gleichen Richtung bewegen, als zusammengehörig erscheinen – sich in einer Richtung bewegenden Tänzern gleich, die als Gruppe wahrgenommen werden, welche sich von stehenden Tänzern absetzt.
So ist der Sternenhimmel der Inuit beispielsweise geprägt von Bewegung, wie die vielen Jagd- und Verfolgungsszenen zeigen, bei denen Jäger und ihre Hunde einen Eisbär hetzen oder eine Schlittenfahrt Männer hinauf in den Himmel führt, der im White-out des Eises ohnehin stets greifbar nahe scheint.
Bei den Tuareg wiederum hat dieses Gesetz des gemeinsamen Schicksals die Geschichte des armen Vasallen Kukayod’ entstehen lassen, der die Ziegenherde der Hyaden als sein Hochzeitsgeschenk zu den Töchtern der Nacht in den Plejaden treibt, ohne jemals eine von ihnen zur Frau zu erhalten – da er ja nie ankommt, seit grauer Vorzeit schon.
Um verstreute Lichtpunkte als Figur wahrzunehmen, muss man sie von ihrem Hintergrund abheben – wobei stets das zum Hintergrund gerät, was weniger Information bietet. Nur deshalb werden ja die aus einer gleichförmig schwarzblauen Nacht hervorleuchtenden Sterne gemäß den oben aufgezählten Gesetzen zu einprägsamen Figuren gruppiert.
Kehrt sich dieses Verhältnis um – wie in der Atacama-Wüste, wo der Himmel so klar ist, dass Sterne und Milchstraße das Nachtdunkel fast elektrisch grell überstrahlen –, werden die Strukturen des Hintergrunds relevant: Dann formen sich darin schwarze Sternbilder heraus, gleichsam als Negative. Derart sehen auch die Nachkommen der Inka heute noch in den Dunkelwolken der Milchstraße einen ganzen Tierkreis von Figuren: Lamas, Steißhühner, Frösche bis hin zu einer Schlange.
Mitten unter ihnen ist Atoq, der Fuchs, zu erkennen, der sich der Fabel nach dort oben bei einem himmlischen Bankett voll frisst, um dann irgendwann einmal zu platzen.
Die moderne Astronomie erzählt im Grunde die gleiche Geschichte. Denn genau hinter seinem dunklen Fell verbirgt sich, wie wir seit Kurzem wissen, ein ebenso gefräßiges Schwarzes Loch als Zentrum unserer Milchstraße.
Eine gewisse Körperlichkeit erhalten Sternbilder dadurch, dass der Umriss einer abgehobenen Figur zu ihr und nicht mehr zum Grund gehört, so dass sie darüber zu schweben scheint.
Was die Sternengucker der Antike dazu veranlasste, im Himmel nicht nur die Götter der Nacht zu erblicken, sondern sie dort auch ihre Häuser und Throne einnehmen zu lassen.
Dabei sollte man nicht vergessen, dass es hier nicht um graphisch korrekte Darstellungen geht: Sternbilder sind naturgemäß stets irgendwie verzerrt. Sie sind auch nicht unserer modernen Vorstellung von Perspektive unterworfen, sondern bilden etwas gemäß der jeweiligen kulturellen Darstellungskriterien ab. So sind die Sternbilder der Ägypter von den typisch ägyptischen Bildformen ebenso vorgeprägt wie jene der Maya von ihren.
Wie gerade „verworrene und unbestimmte Dinge“ unsere Einbildungskraft anregen, hat Leonardo da Vinci auf wunderbare Art und Weise beschrieben: „Wenn du stehen bleibst, um auf einen Fleck, eine Mauer oder die Asche eines Feuers, auf Wolken, in den Schlamm oder auf andere Stellen zu schauen ... so kannst du da Dinge erblicken, die diversen Landschaften gleichsehen, geschmückt mit Gebirgen, Flüssen, Felsen, Bäumen, großen Ebenen, Tal und Hügel in mancherlei Art“ – weshalb die alten Ägypter im Himmel ein riesiges Nildelta samt Insel, Schiffen und Kanälen rund um ihre Elysischen Felder wahrnahmen.
„Auch kannst du da allerlei Schlachten sehen“ – wie etwa den ewigen vielgestaltigen Kampf Seths gegen Osiris in mehreren altägyptischen Sternbildern – „sowie lebhafte Stellungen sonderbar fremdartiger Figuren und ungeheuerlicher Dinge wie Teufel und dergleichen“ – Chimären, Drachen und andere Mischwesen, wie sie die Mesopotamier an ihrem Himmel vergötterten –, „Gesichtsmienen“ – wie jene im Mond weltweit –, „Trachten“ – wie das für die Tuareg typische Gewand, das ihnen Orion erst als Anführer kenntlich macht –, und unzählige andere Dinge …
Was da Vinci hier formuliert, erklärt, weshalb man in den Sternen von Ursa Major eine Bärin, einen Wagen, eine Schöpfkelle, einen einbeinigen Mann, einen Papagei, einen Elch, einen Fuchsschwanz sehen kann – je nach Kultur.
Mittels ihrer ungeheuren kollektiven Einbildungskraft haben die Menschen weltweit mit ihrem jeweils einzigartigen Blick in den Sternenhimmel ihre ältesten Kunstwerke entworfen, Tableaus von Figuren, die für die jeweilige ethische und ethnische Gemeinschaft ebenso zentral sind wie das Deckengemälde der Sixtinischen Kapelle für das Christentum.
Sternbilder sind also keineswegs Klecksographien, ausschließlich individuell und subjektiv, nein, sie sind für ein Kollektiv verbindliche Figuren, die Objektives vor Augen führen wollen, wie es die Bilder von Armenbibeln tun.
Die Nachthimmel dienten den Kulturen in einer Zeit, als es noch keine Schrift gab, als Bilderbücher: Denn in den Sternen fand sich alles für sie Wesentliche und Wichtige gezeichnet, das es nur herauszulesen und in Legenden und Mythen zu erzählen galt.
Die Sternbilder waren und sind bis heute Anlass für und Abbild von Sternsagen, in denen fundamentale Aspekte einer Kultur überliefert wurden und werden: zumal in Erzählungen vermittelte Informationen über zwanzig Mal einprägsamer sind als bloße Fakten allein. Und weil es nicht aufhören wird, dass unser auf die Interpretation von Mustern ausgerichtetes Gehirn selbst in den Drehungen von Lichtpunkten am Nachthimmel noch Narrative zu erkennen verlangt.
Das demonstriert eindrucksvoll der Bericht eines Spaniers von 1609, dem die Inka die Figur einer ihr Junges säugenden Lamastute in den Dunkelwolken der Milchstraße zu zeigen suchten: „Sie sagten: ‚Siehst du nicht den Kopf der Lamamutter? Und da: der Kopf des an ihr säugenden Fohlens; und dort: ihr Körper und die Beine.’ Ich jedoch vermochte nichts außer Flecken zu erkennen, was wohl einem Mangel an Vorstellungskraft meinerseits zuzuschreiben ist.“
Zweifelsohne: Ein Sternbild gehört der Natur an: der Natur ‚da draußen’. Im selben Maß aber, nämlich als Kunst, ist es auch in uns, ‚da drinnen’.
In jedem Fall ist es ein kreativer Akt, der in der Erschaffung eines Sternbildes zum Ausdruck kommt, allerdings eher einer des Findens. Nicht des Erfindens, von dem die Kunstgeschichte sonst erzählt, einer des Entdeckens, Erfassens, Wahrnehmens, Bestimmens: und somit einer Bewusst-Werdung unserer selbst.
Das uralte und weltweit erblickte Mondgesicht etwa zählt zu jenen Schatten- und Trugbildern, die sich zwar als Fehldeutung unseres auf das Identifizieren von Strukturen angelegten Gehirns erweisen: vervollständigt es doch hauptsächlich diffuse und zufällige Reizmuster zu einer bekannten Figur. Im Unterschied zu veritablen Halluzinationen aber lässt sich dieser Vorgang willentlich steuern und zudem auch von anderen Personen wahrnehmen.
Ein alter Hut, wie schon Shakespeare seinem Publikum genüsslich vorführte: „Siehst du die Wolke dort, die fast wie ein Kamel ausschaut? Polonius: Ich schwör’s; bei der Messe – sie wirkt wirklich fast wie ein Kamel. Hamlet: Ich denk’ eher wie ein Wiesel. Polonius: Es hat den Rücken eines Wiesels. Hamlet: Oder wie ein Wal? Polonius: Sie gleicht schon sehr einem Wal.“
Außerdem: Das eine wie das andere bindet uns in und an die Natur, in jeweils anderen Formen von Re-ligio: von einer Rückbindung an die Welt. Dieselbe Kognition, mit der wir bilateral symmetrische Wesen in der Umwelt erkennen, lässt uns auch über Supersymmetrien der Materie reden. Und so wie schon die Kunst aus unserem Gestalt-Sehen entstand, entwickelte sich auch die Religion auf ähnliche Weise.
Allein deshalb schon gehören die STERNENHIMMEL DER MENSCHHEIT zu unserem unschätzbaren immateriellen Kulturerbe – das trotz Raketen, Raumsonden und Teleskopen auch weiterhin ungreifbar bleiben wird. Geheimnisvoll. Voller Magie.
Der einzig merkbare Unterschied zwischen damals und heute allerdings besteht darin, dass der Sternenhimmel jetzt, falls wir ihn überhaupt noch irgendwo sehen, eine unfassbarere Leere und Gleichgültigkeit auszustrahlen scheint, während wir ihm einst einmal durch unsere/seine Sternbilder nahe schienen, Teil waren von ihm: indem wir auf den Himmel projizierten, was uns an uns selbst wichtig war, in Gestalt von Göttern, Helden und Ungeheuern, Menschen, Tieren und Pflanzen, in Geschichten von Kämpfen, Niederlagen und Erhöhungen.
Spätestens seit der Erfindung des Fernrohrs im 17. Jahrhundert hat die Menschheit begonnen, sich andere, neue Narrative über das Universum zu erdenken. Und auch die Bezüge sind mittlerweile etwas andere.
Umso wichtiger ist es, die frühen Sternenhimmel-Mythen und -Legenden, die ersten Bilderbücher der Menschheit, zusammenzutragen, sie sich zu vergegenwärtigen, in ihnen ein letztes Mal zu lesen, bevor sie sich für immer auflösen in ein Kaleidoskop aus Sternenstaub.