Foto: Pixabay / WikiImages

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Der Mythus vom Ursprung alles Lebens

Erzählt von Apákak vom Noatak-Fluss

Die Menschen denken nicht gern. Sie arbeiten nur ungern mit dem, was schwer zu fassen ist. Und darin liegt vielleicht der Grund, dass wir noch so wenig wissen vom Himmel und von der Erde, vom Ursprung der Menschen und der Tiere.

Vielleicht und vielleicht auch nicht.

Denn es ist schwierig zu verstehen, wie wir selbst wurden und wohin wir einmal kommen, wenn wir nicht mehr leben. Dunkel liegt über allem Anfang und allem Ende. Wie könnte man mehr wissen über das Gewaltigste, das uns umgibt und uns aufrecht erhält, über all das, was wir Luft, Himmel und Meer nennen, und was wir als Menschen aller Wohnplätze und als Tiere, Vögel und Fische aller Länder, Meere und Binnenseen bezeichnen?

Nein, niemand kann mit Sicherheit etwas wissen über den Anfang alles Lebens.

Aber wer Augen und Ohren öffnet und sich erinnert, was die Alten erzählten, der hat doch das eine oder andere Wissen, das die Leere unserer Gedanken ausfüllen kann. Darum lauschen wir immer gerne dem, der Kunde bringt von der Erfahrung toter Geschlechter. Und alle die alten Mythen, die wir von unseren Vorvätern erhielten, sind die Reden der Toten. Wir sprechen mit allen, die einst vor langer Zeit weise waren. Und wir, die wir scheinbar nur so wenig wissen, lauschen ihnen gerne. Meine Großmutter konnte überraschende Dinge berichten von uralten Begebenheiten, und von ihr habe ich alles, was ich jetzt erzählen werde.


Der Himmel entstand vor der Erde. Aber er war nicht älter; denn zu der Zeit, als dieser wurde, war auch die Erde schon im Begriff sich zu formen und eine feste Kruste zu bekommen, noch ehe sie zu Land wurde. Und hier war auch das erste lebende Wesen, von dem wir Kunde haben.

Und dieses Wesen nennen wir Tulungersaq oder Vater Rabe, denn er gestaltete alles Leben, sowohl auf der Erde wie in den Menschen, und er wurde der Ursprung von allem.

Er war kein gewöhnlicher Vogel, sondern eine heilige Lebenskraft, die der Anfang war von allem, was zu jener Welt wurde, in der wir nun leben. Doch auch er begann in Gestalt eines Menschen, und er tastete im Dunkeln, und seine Taten waren zufällige, bis ihm offenbar wurde, wer er war und was er sollte.

Er saß zusammengekauert in der Finsternis, als er plötzlich zum Bewusstsein kam und sich selbst entdeckte. Er wusste nicht, wo er war, er wusste auch nicht, wie er geworden war. Aber er atmete und besaß Leben. Er lebte.

Alles um ihn herum war Finsternis, und er konnte nichts sehen. Mit den Händen tastete er sich voran. Seine Finger strichen über Lehm, überall wohin er tastete. Die Erde war Lehm, alles rings um ihn war toter Lehm.

Er ließ die Finger über sich selbst hingleiten, fand sein Angesicht und fühlte, dass er Nase, Augen und Mund, Arme, Beine und Leib hatte. Er war ein Mensch – ein Mann.

Über der Stirn fühlte er einen kleinen, harten Knoten. Wozu dieser da war, wusste er nicht. Er ahnte nicht, dass er selbst einmal zu einem Raben würde, und dass der kleine Knoten wachsen und zum Schnabel werden sollte.

Er versank in Gedanken. Nun begriff er, dass er ein freies Wesen war – etwas Selbständiges, das nicht verwachsen war mit all dem, was ihn umgab. Dann kroch er über den Lehm, langsam und vorsichtig. Er wollte feststellen, wo er war. Plötzlich fühlten seine Hände einen leeren Raum vor sich, einen Abgrund, und er durfte nicht weitergehen.

Da brach er einen Klumpen Ton ab und warf ihn hinunter in die Tiefe. Er lauschte, weil er hören wollte, wann dieser den Grund erreichte. Doch er hörte nichts. Er rückte weiter vom Abgrund fort und fand einen harten Gegenstand, den er im Lehm vergrub. Er wusste nicht, warum er das tat; aber er tat es, und dann saß er wieder stillversunken da und dachte nach, was wohl in all der dichten Finsternis, die ihn umgab, sein könne.

Da hörte er plötzlich ein Sausen in der Luft, und ein kleines, leichtes Wesen setzte sich auf seine Hand. Mit der anderen Hand fühlte er darüber hin und bemerkte, dass es Schnabel und Flügel hatte und warme, weiche Federn am Körper, aber winzige, nackte Füße. [...]


Auszug aus: Der Mythus vom Ursprung alles Lebens. In: Knud Rasmussen: Die Gabe des Adlers. Eskimoische Märchen aus Alaska. Frankfurt, Societäts-Verlag 1937.

Download: Hier können Sie die komplette Erzählung als PDF herunterladen.