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Es gab eine Zeit, da auf der Erdoberfläche noch keine Menschen waren. Die ersten vier Tage war der erste Mensch noch eingehüllt in der Schote einer Stranderbse. Am fünften Tag streckte er seine Füße heraus, zersprengte die Schote und fiel als völlig ausgewachsener Mann auf den Boden und stand auf. Er sah sich um, bewegte seine Hände und Arme, seinen Hals und seine Beine und untersuchte sich selbst ganz neugierig. Als er sich umsah, erblickte er die Schote, aus der er herausgefallen war, noch an der Ranke hängend und an ihrem unteren Ende das Loch, aus dem er gekommen war. Dann sah er sich wieder um und bemerkte, dass er sich von seinem Ausgangspunkt entfernt hatte und der Boden unter seinem Tritt nachgab und ganz weich war. Nach einiger Zeit spürte er im Magen ein unangenehmes Gefühl und bückte sich, um aus einer kleinen Pfütze vor seinen Füßen Wasser in den Mund zu schöpfen. Das Wasser lief in seinen Magen hinunter und er fühlte sich wieder wohler. Als er wieder aufsah, bemerkte er ein schwarzes Ding mit flatternden Bewegungen geradewegs auf sich zukommen. Wenn es anhielt und am Boden stand, sah es ihn an. Das war der Rabe, und als er stehen blieb, hob er einen Flügel und schob seinen Schnabel, wie eine Maske, auf den Kopf hinauf und verwandelte sich im selben Augenblick in einen Mann. Schon bevor er seine Maske hochgehoben, hatte er den Menschen angestarrt, und nachdem er sie aufgehoben, glotzte er noch mehr und bewegte sich, um genauer sehen zu können, hin und her. Endlich sagte er: „Was bist du? Von wo bist du gekommen? So etwas wie dich habe ich noch nie gesehen!” Der Rabe blickte den Menschen an und war immer mehr darüber verwundert, dass dieses fremde Wesen ihm an Gestalt so ähnlich war.
Dann ließ er den Menschen ein paar Schritte gehen und rief wieder erstaunt: „Von wo bist du gekommen? Ich habe früher nie so etwas, wie dich, gesehen!” Darauf antwortete der Mensch: „Ich komme aus dieser Erbsenschote” und zeigte auf die Pflanze, aus der er gekommen war. „Ah”, rief der Rabe, „ich habe zwar diese Pflanze geschaffen, aber niemals geglaubt, es könnte so etwas wie du daraus hervorkommen. Komm mit mir auf jene Anhöhe dort; ich habe sie zwar erst ein wenig später gemacht und sie ist noch weich und nachgiebig, aber es ist dort doch fester und härterer Grund als hier.”
Sie gewannen bald das höher gelegene Land und hatten nun festeren Boden unter ihren Füßen. Der Rabe fragte den Menschen, ob er etwas gegessen hätte. Dieser antwortete, dass er aus einer Pfütze irgendein feuchtes Zeug zu sich genommen. „Ah”, sagte der Rabe, „du hast Wasser getrunken. Warte jetzt hier auf mich.”
Er zog die Maske wieder vors Gesicht, verwandelte sich so in einen Vogel und flog hoch in den Himmel, wo er verschwand. [...]
Auszug aus: Die Schöpfung. In: Eskimomärchen. Übersetzt von Paul Sock. Berlin, Axel Juncker Verlag 1921.
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