Nicholas Campion auf dem Festival STERNENHIMMEL DER MENSCHHEIT 2021

Nicholas Campion auf dem Festival STERNENHIMMEL DER MENSCHHEIT 2021

Wir sind Teil des Himmels

Gavin Pretor-Pinney, Gründer der “Cloud Appreciation Society” [Vereinigung der Wolkenfreunde] sagt: “Wir leben nicht unter dem Himmel. Wir leben in ihm.” Vor mehr als 2.000 Jahren entdeckte man, dass unsere Erde eine Sphäre sei. Unser gesamter Planet schwebt also im Himmel, wir sind Teil des Himmels. Wir erliegen schlicht der Illusion, dass wir in irgendeiner Weise „auf dem Boden“ stehen, während wir „in den Himmel“ schauen.

Ich bin ein Amateur-Astronom; ich liebe es, den Sternenhimmel zu betrachten. Wenn du in diesem Jahr Anfang September um etwa 4 Uhr morgens auf bist, wirst du vom Anblick eines einzelnen hellen „Sterns“ begrüßt. Ich finde es großartig, zu wissen, dass dies der Planet Jupiter ist, und das Licht der Sonne, das dieser Planet reflektiert, trifft deine Augen, während du ihn betrachtest. Dieses Licht hält Einzug in deine Sinne.

“Das Universum besteht aus Geschichten, nicht aus Atomen”, hat die Dichterin und politische Aktivistin Muriel Rukeyser gesagt. “Dem stimme ich zu”, sagt Chris Impey, Ausgezeichneter Professor der Astronomie an der Universität von Arizona. Es ist ein wunderbares Bild, das Rukeyser da zeichnet. Wenngleich die Astrophysiker immer mehr dahinterkommen, aus was das Universum besteht, so kommen sie ihm in gewisser Hinsicht doch nicht näher. Zudem haben wir in den letzten Jahrzehnten nur einen kleinen Prozentsatz dessen entdeckt, was das Universum unseres Wissens nach ausmacht. Für die Teile, die wir nicht verstehen, haben wir Namen wie „dunkle Materie“, dann „kalte dunkle Materie“ erfunden. Insofern besteht das Universum vielleicht tatsächlich aus Geschichten.

Ich bin Direktor des MA-Studiengangs für Kulturelle Astronomie und Astrologie an der University of Wales Trinity Saint David. Dieses Fernstudium gibt es nun bereits seit 20 Jahren. Der Grund dafür, dass wir es „Kulturelle Astronomie und Astrologie“ genannt haben, ist, dass die beiden Wörter lediglich in der modernen westlichen Welt – ursprünglich Deutschland, Frankreich, Skandinavien und Großbritannien – und auch dort erst seit dem 17. Jahrhundert diese deutliche Trennung erfahren haben. Die Vermessung der Positionen von Sternen und Planeten, das Wesen der modernen Astrologie, wird heute von der Zuschreibung von Bedeutung für Sterne und Planeten, dem Wesen der Astronomie, grundlegend unterschieden.

Wohingegen die meisten Kulturen – und auch die westliche bis zum 17. Jahrhundert – diese Unterscheidung zwischen traditioneller Astronomie und Astrologie gar nicht kennen: In Indien gibt es nur ein einziges Wort, “jyotish”, die “Wissenschaft vom Licht”, um beides zu beschreiben, die traditionelle Astronomie wie die Astrologie. In Japan lautet dies “onmyōdō”, die “Yin-Yang-Lehre”. In China waren die Beobachtung und Vermessung himmlischer Phänomene immer untrennbar mit ihrem Wert für das menschliche Wissen verbunden. Dies wiederum wurde unterteilt in “li” oder auch “li fa” – Kalendarien, die das Jahr nach der Bewegung der Himmelskörper ausrichteten – und “tian wen”, was hauptsächlich das Lesen und die Interpretation von Sternbildern betraf.

Im Verlauf meines Studiums wurde mir klar, dass ich, um Astrologie-Historiker sein zu können, auch die Praxis der Astrologie verstehen muss. Es ist dasselbe wie bei einem Archäologen: Du musst wissen, wie die Artefakte der Vergangenheit gefertigt und verwendet wurden. Experimentelle Archäologen stellen solche Artefakte tatsächlich her und gebrauchen sie. Also bildete ich mich darin weiter. Ich folge derselben Methode, um mich der Geschichte der Astrologie zu nähern. Doch natürlich ist der Begriff des „Glaubens“ an die Astrologie in der modernen Welt ungemein umstritten.

Als Astronomie-Historiker bin ich oft gefragt worden: „Glauben Sie an Astrologie?“ Ich fand heraus, dass das Hauptproblem dieser Frage im Wort „Glaube“ liegt. Im Englischen ist das Wort „belief“ mittlerweile unglaublich aufgeladen. Es ist ein sehr mächtiges Wort, oft bedeutet “to believe in something” automatisch Dummheit, weil man etwas einfach hinnimmt, ohne einen Beweis einzufordern. Formuliert man also die Frage um – nicht: „Glaubst du an Astrologie?“, sondern „Denkst du, dass dein Sternzeichen deine Persönlichkeit wenigstens ein bisschen widerspiegelt?“ –, dann erfährt diese Frage auf einmal sehr viel mehr Zustimmung, was unterstreicht, dass die Astrologie ein tief verwurzelter Teil unserer Populärkultur ist. Dies hat nichts zu tun mit irgendeiner wesentlichen Wahrheit oder Wirksamkeit, aber alles zu tun mit der kulturellen Bedeutung von Astrologie.

Die Lehre von der Kulturellen Astronomie ist weder zeit- noch ortsgebunden. In der gegenwärtigen Welt umfasst sie eine breite Auswahl an Möglichkeiten und Themengebieten: die Darstellung von Sternen, Planeten und dem Weltraum in der Bildenden Kunst, in Literatur, Musik und Architektur zum Beispiel; die Kulturen und kulturellen Vorstellungen von Astronomen; moderne religiöse Vorurteile der Astronomie gegenüber; kulturelle Kontexte, die den Ansprüchen und Praktiken moderner Astrologie entsprechen.

Wir können also den Sternenhimmel nicht ohne seinen kulturellen Hintergrund betrachten. Was wir sehen, wird vermittelt durch das, was uns über den Himmel erzählt wurde. Und darin liegt seine Vielfalt: Es gibt viele Wege den Sternenhimmel zu sehen, genau wie den Taghimmel. Ich interessiere mich sehr für solche landeseigene Verständnisse unserer Bezogenheit zum Himmel, die Zeit und Ort eine mächtige Bedeutsamkeit zusprechen und die gesamte Welt als ein einziges in sich verbundenes und zusammenhängendes Ganzes ansehen.

Betrachten wir moderne westliche Astrologie, stellen wir fest, dass es eine Form der kulturellen Astronomie ist, mit Wurzeln in einer sehr alten und Parallelen zu unserer heutigen Welt. Sie geht von der Wechselbeziehung aller Dinge aus. In ihr lebt auf bemerkenswerte Weise eine frühe menschliche Kultur fort, die vom vielfältigen Wesen moderner westlicher Kultur erzählt, vom tiefen Wunsch, unseren Sinn in der Welt zu finden und eine Verbindung zum Kosmos. Dadurch verschafft sie dem Individuum Zugang zur Weite des Weltalls in Bezug auf das Hier und Jetzt, den Ort und die Zeit in einem zusammengehörigen Universum. Und dies, möchte ich behaupten, verleiht der modernen Astrologie die Charakteristiken eines indigenen Wissenssystems.

Der Text ist ein Auszug aus dem Vortrag Cultural Astronomy: Western Astrology as Indigenous Knowledge, den Dr. Nicholas Campion – Direktor des Sophia Centers zur Erforschung der Kosmologie als Kulturwissenschaft an der Universität Wales – am 4. September 2021 im Rahmen des Festivals Sternenhimmel der Menschheit gehalten hat.


Auswahl und Übersetzung: STERNENHIMMEL DER MENSCHHEIT / Teresa Grenzmann