„Gott ist der Grund, warum ich Wissenschaft betreibe“
Br. Guy J. Consolmagno, S.J.
Als Direktor des Vatikanischen Observatoriums und der Vatikanischen Sternwarte Specola Vaticana wie als Präsident der Stiftung des Vatikanischen Observatoriums ist Br. Guy J. Consolmagno Mitglied der "Societas Jesu", der Jesuiten, dem größten Orden der katholischen Kirche. Und Philosoph. Zugleich ist er studierter Wissenschaftler: Die IAU (Internationale Astronomische Union) zeichnete seine Arbeit mit der Benennung von Asteroid 4597 Consolmagno aus. Klar, dass sich seine zahlreichen Publikationen da auch mit der Frage beschäftigen, ob und in welchem Maß es einen Widerspruch oder Konflikt zwischen biblischen Inhalten und wissenschaftlichen Erkenntnissen gibt.
Wenn wir die Welt durch die Augen der Religion oder durch die der Naturwissenschaft betrachten: Worin liegt der Unterschied? Was sehen wir? Mit welchen Fragen werden wir konfrontiert?
Ich habe nur ein Paar Augen.
Betrachte ich die Welt, interpretiere ich das, was ich sehe, im ständigen Kontext mit dem, was ich erwarte zu sehen. Gleichzeitig weiß ich, dass ich damit rechnen muss – dass ich bereit sein muss, mich überraschen zu lassen davon –, Dinge zu sehen, die zu sehen ich eben nicht erwartet habe. Und diese Erwartungen beruhen auf meinen Annahmen darüber, wie die Welt funktioniert … wissenschaftlichen und philosophischen und religiösen Annahmen, die andauernd aktualisiert werden, sobald ich neue Dinge sehe und lerne.
Diese Annahmen bilden eine geballte Ladung an Hoffnungen und Ängsten und Erwartungen und Vorurteilen und Träumen! Sie werden geformt durch meine persönliche Geschichte. Und sie werden verzerrt durch all die Dinge, die meine Geschichte nicht beinhaltet. Ich würde die Welt sicher anders sehen, wenn ich, sagen wir, in Afrika aufgewachsen wäre, nicht in Amerika.
Der Versuch, zu analysieren, wie ich das Universum sehe, ist natürlich, als ob ich versuchte, die Liebe zu analysieren. Oder einen guten Witz! Es ist wie der Versuch, einen Frosch zu verstehen, indem man ihn seziert. Nachher weiß man, wie sich all die Teile zusammenfügen, aber das Erleben des verschnörkelten kleinen grünen Tieres verliert man; im Endeffekt tötet man den Frosch dabei.
Ja, ich sehe die Welt als ein Mitglied eines religiösen Ordens. Ich würde die Welt anders sehen, wenn ich geheiratet und eine Familie gegründet hätte; das sind Erfahrungen, die ich niemals machen werde. Andererseits kann keine verheiratete Person nachvollziehen, wie es sich anfühlt, ein Leben im Zölibat zu leben. Und nichts anderes ist es zu sagen, dass ich, weil ich mein Leben mit dem Studium von Planeten zugebracht habe, niemals dasselbe umfassende Wissen in Mikrobiologie besitzen kann.
Was wir stattdessen tun, sowohl als Wissenschaftler als auch als religiöse Menschen, ist, dass wir der größeren Gemeinschaft von Menschen Aufmerksamkeit spenden, die andere Erfahrungen als ich gemacht haben. Ich versuche ja nicht, jedes wissenschaftliche Experiment selbst durchzuführen. Genauso berufe ich mich auch nicht nur auf meine eigenen religiösen Erfahrungen. Mein Blick ist nicht nur nach außen zu den Sternen gerichtet oder nach innen zu meinem eigenen geistigen Leben, sondern auch zu den anderen Menschen, die mich umgeben und mich an Orte führen können, die ich allein niemals erreichen würde. (Und sie können mich warnen, wenn sie vermuten, dass ich falsch liege.)
Liebe ist keine Aufgabe mit einer Lösung am Ende des Buches
Und umgekehrt: Wie gelingt es Ihnen, Wissenschaft und Glauben zueinander in Beziehung zu setzen?
Das Missverständnis, das ich ausräumen möchte, ist die Annahme, Wissenschaft und Glaube seien voneinander getrennt. Ich glaube an die Wissenschaft, ich setze Vertrauen in die Wissenschaft. Jedes rationale muss mit Axiomen, Annahmen, Grundlegendem beginnen, in das man Vertrauen setzt. Und ich möchte, dass meine Überzeugungen, wissenschaftlich und religiös, auf Erfahrungen beruhen. Fakten, wenn man so will. Jede Art von religiösem Ausdruck beginnt mit einer religiösen Erfahrung.
Aber lassen Sie uns dies umdrehen und eine andere, wenn auch verwandte Frage stellen. Warum lege ich Wert darauf, Wissenschaft oder Glauben zu erfahren? Warum lege ich Wert darauf, Annahmen zu treffen und aus diesen Annahmen dann zu schlussfolgern? Ich erforsche das Universum, weil ich es liebe. Ich praktiziere meinen Glauben, weil er mir einen Weg eröffnet, meine Liebe zu Gott auszudrücken.
Liebe ist keine Aufgabe mit einer Lösung am Ende des Buches. Wenn es um Fragen der Liebe geht, gibt es sicherlich falsche Antworten, aber es gibt nie die eine richtige, endgültige Antwort.
Eine der interessanten Lehren meines Glaubens ist die Vorstellung, die in unserer Schrift deutlich zum Ausdruck kommt, dass Gott Liebe ist. Der Grund, warum ich Wissenschaft betreibe, ist also, dass ich Gott darin finde, wenn ich sie liebe. Die Heilige Schrift sagt mir auch, dass Gott Wahrheit ist. Die Wissenschaft, die ich betreibe, funktioniert also nur im Streben nach Wahrheit (nicht etwa nach Besitz oder einem Nobelpreis) ... das heißt, im Streben nach Gott. Gott ist der Grund, warum ich Wissenschaft betreibe.
Es gibt einige Wissenschaftler, die sagen, dass sie nicht an Gott glauben. Was sie wirklich sagen, ist, dass es Versionen von Gott gibt, an die sie nicht glauben. Und das ist in Ordnung für mich; es gibt viele Versionen von Gott, an die auch ich nicht glaube. Wie ich schon sagte: Es kann falsche Antworten geben ... wenn ich auch zugebe, dass es nie eine einzige vollkommen richtige Antwort gibt.
Öfters bezeichnen sich Wissenschaftler, die keine Religion praktizieren, als „Agnostiker“. Wie Carl Sagan einst (zu einem seiner Studenten) sagte: „Ein Atheist ist jemand, der mehr weiß als ich.“ Aber natürlich weiß niemand von uns mit Bestimmtheit. Dennoch ist es schwer, Wissenschaft zu betreiben, wenn man nicht an die Wahrheit glaubt. Und man wird sie wahrscheinlich auch nicht betreiben wollen, wenn man sie nicht liebt.
Die Wissenschaft ist die Erfahrung; die Liebe ist die Erfahrung; der Glaube ist die Erfahrung. Nichts davon ist an und für sich das Ziel. Das ist es, was Papst Johannes Paul II. sagte, als er schrieb (in Fides et Ratio), „Glaube und Vernunft sind wie die beiden Flügel, mit denen sich der menschliche Geist zur Betrachtung der Wahrheit erhebt.“ Das Ziel ist weder Glaube noch Vernunft; Glaube und Vernunft sind die Werkzeuge. Das Ziel ist die Wahrheit.
Die Menschheit – ob in den Geschichten des Alten und Neuen Testamentes oder in den Fakten der Wissenschaft – ist stets auf der Suche nach Wahrheit, der einen Wahrheit. Doch Wahrheit und Wahrhaftigkeit scheinen nach Beweisbarkeit zu rufen.
Ich möchte Sie bitten, zwei Aspekte, die Sie in Ihrem dialogischen Buch „Wo war Gott, als das Universum geschaffen wurde?“ gemeinsam mit dem Jesuitenpater Paul Mueller anführen, näher zu erläutern: Zum Einen führen Sie Ihre Leser gedanklich in ein berühmtes Kunstmuseum – um zu verdeutlichen, dass es viele Möglichkeiten gibt, „die Realität“ darzustellen. Zweitens formulieren Sie, es gehe um das Wirken eines handelnden Gottes in einem Universum, „das von unerklärlichen Naturgesetzen gelenkt“ werde.
Eines der großartigen Dinge, wozu mich die Jesuiten gebracht haben, war einige Jahre lang Philosophie zu studieren … Wissenschaftsphilosophie eingeschlossen. Was Sie sagen, gibt eine Wissenschaftsphilosophie des 19. Jahrhunderts wieder, genannt „Logischer Positivismus“, von dem zu viele Wissenschaftler denken, er beschreibe das, was sie tun, auch wenn sie sich tatsächlich ganz unterschiedlich verhalten. Logischer Positivismus ist zudem eine ziemlich geplatzte Theorie. Eines der ersten Dinge, die man damit tun kann, ist sie zu widerlegen! Was bedeutet … ausgehend von den eigenen Annahmen (siehe oben über die Rolle von Annahmen) lässt sich feststellen, dass sie in sich nicht stimmig ist.
Beweise haben immer mit Axiomen, Annahmen zu tun. (Siehe Gödels Theorem.) Ändern Sie Ihre Axiome und Sie können fast alles „beweisen“! Deswegen gibt es so viele verschiedene Möglichkeiten, die Realität darzustellen. Und deshalb sprechen wir von unerklärlichen Naturgesetzen.
Darum ist die Wahrheit so schwer fassbar. Und es liegt in der Natur der Wissenschaft, dass sie nicht nach zeitlosen Wahrheiten Ausschau hält. Vielmehr such sie nach „der besten Umschreibung, die uns im Moment einfällt“ … jenen Naturgesetzen …, was etwas ganz anderes ist als eine zeitlose Wahrheit. Doch natürlich ist genau dies auch der Grund, warum der Wissenschaft niemals der Stoff für ihre Forschung ausgeht: weil wir wissen, dass unsere beste Erklärung heute stets Verbesserungspotenzial behält.
Gott lässt uns lernen, ohne unsere Hausaufgaben für uns zu machen
Sie sprechen außerdem von primärer und sekundärer Kausalität. Wer war also zuerst da: Gott oder das Universum? Wer oder was bedingt hier wen oder was?
Dies ist eine der Hauptfragen, die das „Volk des Buches“ – Judentum, Christentum und Islam – von anderen Religionen unterscheidet. In der Genesis (Teil der Heiligen Schrift) entspricht die Kosmologie im Sinne der Ordnung des Universums dem, was die Babylonier verstanden; zur Zeit, als die Genesis geschrieben wurde, war dies die beste Kosmologie. Doch schon zur Zeit von Aristoteles war sie veraltet. Neu und einzigartig an der Genesis ist nicht, was sie über den Aufbau des physikalischen Universums, sondern was sie über den dafür verantwortlichen Gott sagt.
Sowohl die Babylonier als auch die Griechen als auch die Römer sprachen alle von Göttern innerhalb der Natur. Die Genesis aber besitzt nur einen Gott, der existiert, „bevor“ es eine Schöpfung gibt. und ich setzte dieses „bevor“ in Anführungszeichen, weil es ja Gott selbst ist, der Raum und Zeit erschafft, das „bevor“ meint also wirklich außerhalb. Das meinen wir mit „übernatürlich“.
Wie Rabbi Jonathan Sacks in seinem Buch The Great Partnership erläutert, ist die übernatürliche Natur Gottes „die Entdeckung Gottes jenseits des Universums“, eine Neuerung für die Genesis. Es lässt uns die Schöpfung als etwas sehen, das sich von der Natur unterscheidet, während es sie zugleich umfasst (eine Unterscheidung, die auch Papst Franziskus in seiner Enzyklika Laudato si’ ausdrücklich getroffen hat).
Der Schöpfer dient nicht als Ersatz für die Gesetze und Gewalten der Natur, während er aus einer Laune heraus Blitze schleudert. Vielmehr wird dieser Schöpfer zu dem Einen, der die Existenz solcher Gesetze und Gewalten überhaupt ermöglicht. Aus theologischer Sicht bedeutet dies auch, dass man nicht immer den Willen des Schöpfers in jedem einzelnen Naturereignis erkennen kann. Doch man kann lernen, die Persönlichkeit des Schöpfers in dem zeitlosen, eleganten und schönen Charakter der Gesetze zu erkennen, die der Natur zugrunde liegen und ihr die Freiheit geben, in guter oder nicht guter Weise zu handeln
Wozu braucht es demnach den Menschen? Gott lässt die Erde absichtlich unvollkommen – warum?
Gott „braucht“ die Menschheit nicht. Aber Gott entscheidet sich dafür, die Menschheit zu erschaffen und uns in dieses Universum zu setzen, mit der Fähigkeit, sich seiner Existenz und der Existenz Gottes bewusst zu sein, und mit der freien Wahl zu lieben oder nicht, auszubeuten oder sich zu kümmern. Diese Freiheit ist ein wesentlicher Teil des menschlichen Experiments. Sie ermöglicht es uns, Gott zu lieben, denn Liebe muss immer eine freie Entscheidung sein.
Im Zusammenhang damit geben Sie ein bemerkenswertes Stichwort: „Gottes Selbstbeschränkung“. Ich finde, durch diese Sichtweise wird Gott immer menschlicher, ein Lehrmeister ...
Alle unsere Bilder von Gott sind natürlich nur Metaphern. Manche funktionieren besser als andere, manche besser für einige Menschen als für andere. Das Bild von Gott als Vater funktioniert beispielsweise großartig, wenn du einen wunderbaren Vater hattest so wie ich, kann aber auch hinderlich sein, wenn dein Vater kein guter Mensch war.
Der wesentliche Punkt hinter diesem Bild – als Vater oder Lehrer – ist, dass Gott jemand ist, der uns zwar die richtige Richtung weist und uns Starthilfe gibt. Aber dann lässt er uns lernen, ohne unsere Hausaufgaben für uns zu machen. Zum einen würde uns das die Freude am Lernen nehmen. Es würde uns der Freiheit berauben, Entscheidungen zu treffen. Und es würde uns auch die Chance nehmen, zu Geschöpfen heranzuwachsen, die Gott auf Augenhöhe begegnen. Wie es C. S. Lewis so wunderbar ausgedrückt hat: Wie können wir Gott von Angesicht zu Angesicht begegnen, bis wir Gesichter haben?
Die Wissenschaft eignet sich furchtbar schlecht, um seine Religion darauf zu gründen
Ist Gott also Teil des Universums? Oder außerhalb des „Big Bang“ zu verorten?
Wie ich bereits erklärt habe, existiert Gott auf übernatürliche Weise, außerhalb der Schöpfung. Das ist es, was der Schöpfung die Chance gibt, einen Sinn zu haben (vgl. Wittgenstein). Aber Gott durchdringt auch die Schöpfung, so dass wir Gott innerhalb der Schöpfung finden und begegnen können. (Die bibelkundigeren unter Ihren Lesern können vermutlich die genauen Kapitel und Verse zitieren, die mir als Quellen für diese Ideen dienen; bei mir sind sie kaum original!) Wir Christen sagen, dass dies explizit in der Inkarnation geschehen ist. Ich aber sehe Gott auch in der Schönheit des Universums und dessen eleganten Verhaltensweisen, was wir die Gesetze der Wissenschaft nennen.
Weil Sie es erwähnen, lassen Sie mich etwas Wichtiges über den Urknall sagen. Zunächst erinnere ich daran, dass der Wissenschaftler, der die Idee dessen, was wir heute „Big Bang“ nennen, aus der Wiege gehoben hat, Georges Lemaître, zufällig ein katholischer Priester war. Und er bestand darauf – sogar gegenüber dem Papst –, dass das, was seine Theorie beschrieb, nicht der biblischen Schöpfung aus dem Nichts entsprach.Zuallererst hängt der Urknall von der Existenz von Raum und Zeit und den Naturgesetzen ab; er nutzt diese Gesetze, er hat sie nicht geschaffen. Zweitens ist es eine menschliche Theorie; die beste, die wir im Moment haben, aber dennoch Gegenstand von Tests und Korrekturen und vielleicht sogar eines Tages durch eine bessere Theorie ersetzt. Und schließlich wird, wenn der Tag kommt, an dem wir eine bessere Theorie haben, dies geschehen, weil die Theorie selbst uns den Weg zu einer besseren Theorie gewiesen hat.
Je wichtiger ein wissenschaftliches Ergebnis ist, umso mehr wird es Wissenschaftler dazu inspirieren, über dieses Ergebnis hinauszugehen. Das Geschäft der Wissenschaft ist es, sich selbst stets zu überholen und stets zu erneuern. Das macht die Wissenschaft zu einer wunderbaren Tätigkeit, die nie ihre Frische verlieren wird. Und zu einer furchtbar schlechten Sache, um seine Religion darauf zu gründen.
Und außerirdische Wesen? Was haben Engel oder Dämonen in den Sphären des Universums mit dem sogenannten Marsmenschen im All gemeinsam?
Wenn es sie in unserem Universum gibt - was wir nicht mit Sicherheit wissen, obwohl es mich überraschen würde, wenn es sie nicht gäbe -, dann ist unsere derzeitige kosmologische Annahme, dass sie denselben Gesetzen der Chemie und Physik folgen wie wir. Wenn sie also ebenfalls Intellekt und freien Willen besitzen, wären sie auch Gegenstand derselben Tests bezüglich des Selbstbewusstseins und der Freiheit zu lieben oder zu hassen, derselben „Gesetze“ ethischen Verhaltens.
Das bedeutet nicht, dass ihre Beziehung zu Gott demselben Muster folgen muss wie die unsere. Schließlich wurde Gott in unseren religiösen Geschichten nicht in der Gestalt eines Engels personifiziert. Aber die Tatsache, dass wir über Engel und Dämonen sprechen können, sei es als buchstäbliche Tatsache oder als die beste Poesie, die wir uns ausdenken können, um etwas zu beschreiben, das ansonsten unbeschreiblich wäre, zeigt, dass unser Glaube nicht die dumme Idee beinhaltet, Gott habe nur mich gemacht.
Der amerikanische Komiker Walt Kelly hat es gut ausgedrückt. Er bemerkte, einige Leute würden sagen, es gebe im Universum intelligentere Wesen als die Menschen, während andere behaupteten, wir Menschen seien die intelligentesten Wesen im Universum. So oder so, schlussfolgert er, ist es ein ernüchternder Gedanke!
Wir sind dazu geschaffen, die Schönheit des Universums zu betrachten
Aus welcher Zeit stammt die Genesis und wie weit war die Wissenschaft der Astronomie zu jener Zeit?
Wie ich bereits erwähnte, ist die zeitlose Botschaft der Genesis nicht Teil der Kosmologie, die sie beschreibt. Eine solchartige Kosmologie ist Wissenschaft, und Wissenschaft kann nie derart zeitlos beschrieben werden, da unsere Wissenschaft stetig wächst. (Lernt man die Newtonschen Gesetze, indem man Newtons originale Principia liest oder aus einem modernen Lehrbuch?)
Neu und zeitlos an der Genesis ist vielmehr, was sie über den Gott sagt, der diesen Kosmos geschaffen hat. Wir lernen („Am Anfang schuf Gott …“), dass Gott am Anfang bereits existiert, unabhängig von der Schöpfung. Im Unterschied zu den Babylonischen Göttern, deren Universum zufällig entsteht, entscheidet sich Gott für die Schöpfung („Es werde …“). Das erste, was erschaffen wird, ist das Licht – zu unterscheiden von Sonne und Mond übrigens –, was zeigt, dass nichts im Dunkeln geschieht, sondern alles sichtbar ist, wenn man sehen will. Und Gottes Schöpfung besitzt einen geordneten Ablauf, so regelmäßig wie der Tag auf die Nacht folgt.
Das Bemerkenswerteste an dieser Schöpfung ist ihr Endpunkt. Die Babylonier dachten, der Höhepunkt der Schöpfung sei die Stadt Babylon. In der Genesis hingegen ist die letzte Schöpfung, der Punkt, auf den alles hinausläuft, der Sabbat: Der Tag, an dem wir uns eine Auszeit von den alltäglichen Aufgaben nehmen und Gelegenheit haben, das Universum zu betrachten … wie es beschaffen ist, wie wunderschön es ist.
Wir sind dazu geschaffen, diese Schönheit aufzunehmen und zu wertschätzen. Das ist gemeint, wenn uns gesagt wird, dass wir nicht vom Brot allein leben. Wir verbringen unseren Sabbat mit der Kreation und Betrachtung von Kunst … von Gebet … oder Tanz … oder Sport … oder Dichtung … oder Astronomie … Wie auch immer wir es tun, das ist es, wozu wir geschaffen wurden.
Sie zitieren den US-amerikanischen Jesuiten und Astronomen George Coyne, von 1978 bis 2006 Direktor der Vatikanischen Sternwarte: „In uns wird sich das Universum seiner selbst bewusst.“ Was bedeutet das?
Jeder von uns ist ein Teil des Universums, mit der Fähigkeit, sich unserer Existenz bewusst zu sein und der Fähigkeit, sich wo wir sind umzuschauen. Es spielt keine Rolle, wer wir sind, wo wir leben, wann wir leben. Das „Wir“, auf das sich George bezieht, schließt jedes Wesen ein, das in der Lage ist, sich umzuschauen, auf jedem Planeten, in jeder Dimension ... alle diese Wesen, vom einfachsten Bauern zum brillantesten Wissenschaftler, sind in den Augen des Universums und seines Schöpfers gleich.
Als ich in Kenia lebte (wo ich einige Jahre für das US-Friedenskorps unterrichtete), bestand eine meiner größten Freuden darin, mein kleines Teleskop in die Dörfer zu bringen, in denen die anderen ehrenamtlichen Mitarbeiter lebten, und es nachts aufzustellen, damit jeder hindurchschauen konnte. Jeder liebt es, die Ringe des Saturn zu betrachten.
Die Mission: gute Wissenschaft zu betreiben und sie der Welt zu präsentieren
Am Vatikanischen Observatorium forschen und lehren Sie sowohl in Castel Gandolfo, der Sommerresidenz der Päpste südlich von Rom, die seit 1578 eine der ältesten Sternwarten der Welt besitzt, als auch in Tucson, Arizona. Über wie viele Mitarbeiter insgesamt verfügt das Vatikanische Observatorium und wie sind die Aufgabenbereiche und Forschungsschwerpunkte zwischen diesen beiden Polen aufgeteilt?
Besuchen Se unsere Websites www.vaticanobservatory.va und www.vaticanobservatory.org (es sind unterschiedliche Websites, schauen Sie sich beide an!), um einen Eindruck zu gewinnen, was wir tun.
Wir haben diese beiden Standorte und zusätzlich all die anderen Orte, an denen unsere wissenschaftlichen Mitarbeiter tätig sind. Aber wir bilden ein Observatorium mit einer übergeordneten Mission: gute Wissenschaft zu betreiben und sie der Welt zu präsentieren.
Heute gibt es ein Dutzend Jesuitenpater und-brüder, die als Vollzeit-Astronomen am Vatikanischen Observatorium arbeiten. Wir alle besitzen einen Doktortitel in Astronomie, den wir an denselben Orten erworben haben wie unsere Mitarbeiter in aller Welt: u.a. Padua, Arizona, Oxford, Toronto, Paris. Wir haben unsere eigenen Forschungsprogramme. Diese reichen von Kosmologie – der Erklärung der Mathematik von Quantengravitation – bis hin zur Untersuchung von Meteoriten und Staub, die auf die Erde regnen.
Unsere Jahresberichte (https://www.vaticanobservatory.va/en/publications/annual-report) liefern eine Beschreibung unserer wissenschaftlichen Projekte – und Engagements. Verfasst werden diese Berichte neben den zwölf Jesuiten auch von anderen Wissenschaftlern, die mit uns zusammenarbeiten, darunter ein Dutzend „Assistenz“-Astronomen. Diese „Assistenten“ sind vom Vatikan zugelassene Personen, deren Arbeit unsere Tätigkeiten ergänzt. Einige von ihnen sind auch Jesuiten, es gibt aber auch Laien und Mitglieder anderer religiöser Orden, Männer wie Frauen, Historiker, Philosophen und Theologen sowie Astronomen.
Welche Rolle spielte und spielt denn der Vatikan für Forschung und Fortschritte der Astronomie?
In der Geschichte des Observatoriums sind seit 1891 mehrere Errungenschaften zu verzeichnen. Die erste war die erfolgreiche Fertigstellung der ihr zugewiesenen Region in der fotografischen Himmelskarte Carte du Ciel. In den 1930er Jahren wurden die ersten systematischen Messungen von Spektren reiner Metalle durchgeführt, was zur Gründung der Zeitschrift Spectrochimica Acta führte, die mit umfangreichen Untersuchungen der Sternspektroskopie, etwa der Studie zu Kohlenstoffsternen, verbunden war. Zu den neueren Arbeiten gehören die Farbphotometrie von Sternhaufen, transneptunischen Objekten und erdnahen Asteroiden, die Spektroskopie pekuliärer Sterne und von Sternen, die Exoplanetensysteme beherbergen, sowie die systematische Messung der physikalischen Eigenschaften von Meteoriten. Die theoretische Arbeit innerhalb der Astrophysik konzentriert sich auf die Entwicklung von Galaxien und die Physik der ersten Momente des Urknalls.
Bei diesen Tätigkeiten handelt es sich oft um langfristige (und eher unattraktive) Analyseprojekte. Die sind für die Astronomen zwar von immensem Nutzen, aber diese Arbeit bleibt oft liegen, weil sie schwer zu finanzieren ist und nicht die Art von Tätigkeit, die einem Astronomen Aufmerksamkeit (oder eine Anstellung) einbringt. Dass die Astronomen an der Specola Vaticana keine Zuschüsse beantragen müssen, um ihre Arbeit auszuüben oder ihren Arbeitsplatz zu behalten, erlaubt ihnen, diese Art von „verwaister“ Wissenschaft zu betreiben.
Gibt es eine Zusammenarbeit mit der IAU oder anderen astronomischen Organisationen?
In der ganzen Welt haben wir Mitarbeiter unter den Astronomen an Sternwarten und Universitäten. Das spiegelt unsere eigenen persönlichen Hintergrund: Wir kommen aus vier Kontinenten, sprechen ein Dutzend Sprachen und reisen viel. Meine wissenschaftliche Arbeit hat mich auf alle Kontinente geführt, einschließlich der Antarktis, wo ich Teil eines Teams war, das auf dem ostantarktischen Plateau nach Meteoriten gesucht hat. Aus diesem Grund werden wir oft als Gutachter für die Fachzeitschriften, in denen wir veröffentlichen, herangezogen und sitzen in Gremien, welche die Finanzierungsanträge unserer Astronomiekollegen an deren nationale Wissenschaftsorganisationen beurteilen. Dabei ist hilfreich, dass wir vom Vatikan finanziert werden, so dass wir uns nicht selbst um solche Mittel bewerben müssen!
Wir sind auch in Berufsverbänden und Organisationen aktiv. Mitglieder des Vatikanischen Observatoriums waren u.a. im Vorstand der Internationalen Astronomischen Union (in welcher der Vatikan Mitgliedsland ist), der American Astronomical Society und ihrer Abteilung für Planetenwissenschaften sowie in der Meteoritical Society tätig.
Die zentrale Rolle der Religion für die Verwirklichung von Wissenschaft
Was hat sich die Stiftung des Vatikanischen Observatoriums zur Aufgabe gemacht?
Als die Lichtverschmutzung in der Umgebung von Rom es unmöglich machte, die astronomischen Beobachtungen von unserem Standort in Castel Gandolfo aus fortzusetzen, richtete die Sternwarte ein Büro in Tucson ein und vereinbarte die Nutzung der Teleskope des Steward Observatoriums der Universität von Arizona. Zu dieser Zeit entwickelte Roger Angel jedoch eine intelligente neue Methode der Herstellung von großen Teleskopspiegeln (Schmelzen von Glas in einem rotierenden Ofen). Seinen ersten Spiegel bot er dem Vatikan an, wenn wir ein Teleskop um ihn herum bauen könnten. Dieses Teleskop, das Vatican Advanced Technology Telescope, ist nun schon seit dreißig Jahren auf Mt. Graham im Südosten Arizonas in Betrieb ... ein Teleskop für den Papst mit einem Spiegel, der von einem Engel hergestellt wurde!
Zur Finanzierung dieses Teleskops, seiner Instandhaltung und Aufrüstung sowie der jährlichen Ausgaben haben wir die Vatican Observatory Foundation gegründet. Es handelt sich um eine gemeinnützige 501c(3)-Organisation, die im Staat Arizona eingetragen ist; Spenden sind steuerlich absetzbar (zumindest für US-Spender). Aber der erste Schritt, um Menschen dazu zu bringen, das Teleskop zu unterstützen, besteht natürlich darin, ihnen zu vermitteln, wer wir sind, was wir tun und warum es sich lohnt, an uns zu spenden.
Diese Öffentlichkeitsarbeit ist tatsächlich ein wesentlicher Bestandteil jeder astronomischen Einrichtung. Dabei geht nicht nur darum, dass dies ein guter Weg ist, um die Steuerzahler (oder andere Spender) wissen zu lassen, was sie für ihr Geld bekommen. Es geht auch um den tieferen Sinn, über den ich zuvor gesprochen habe, warum man überhaupt Astronomie betreibt.
Die „Sabbat“-Tätigkeiten, welche die Schöpfung feiern, sind oft solche, die wir nicht selbst verrichten können. Ich kann zwar versuchen, Bilder zu malen oder Gedichte zu schreiben, welche die Freude der Schöpfung einfangen. Viel leichter ist es aber für mich, Bilder und Gedichte aus der Hand von Menschen schätzen zu lernen, die mit einem Talent dafür gesegnet sind. In gleicher Weise besitzt kaum jemand die Möglichkeit, Astronomie professionell zu betreiben. Das bedeutet, dass diejenigen von uns, die in dieser Hinsicht privilegiert sind, dafür zuständig sind, das, was wir tun, mit allen anderen zu teilen.
In unserem Fall kommt dann noch die Aufgabe hinzu, der Welt zu zeigen, inwiefern die Religion eine zentrale Rolle für die Verwirklichung von Wissenschaft spielen kann.
Interview u. Übersetzung: © STERNENHIMMEL DER MENSCHHEIT / Teresa Grenzmann